Stellen
Sie sich vor, Sie sitzen mit Freunden im Restaurant. Sie fühlen sich wunderbar,
unterhalten sich über Liebe, Träume, Politik. Ein Scherz jagt den nächsten. Sie
erzählen einander Witze und genießen ein deftiges Rinderfilet. Bei einem Glas
Rotwein lockert die Stimmung auf. Erinnerungen an lustige Anekdoten werden
wach. Ihr Bauch spannt vom Essen. Ein trautes Gefühl der Freundschaft liegt in
der Luft. Abende wie dieser entlohnen Sie für Ihren Alltag, stärken Ihre
Gesundheit und füllen Ihre Akkus mit frischen Energiereserven. Was sollte Ihnen
jetzt noch passieren? Was könnte Ihr Glück stören, Ihre gute Stimmung trüben?
Sie lehnen sich zurück, breiten Ihre Arme aus und fühlen sich eins mit dem
Universum. Weil Sie gerne Menschen beobachten, haben Sie eine Sitzposition
gewählt, von der aus Sie die ganze Gaststätte überblicken. So dürfte das Leben
immer weitergehen. Aber dann, in einem Moment der Ernüchterung, bricht Ihre
Welt zusammen.
Am nächsten Tag sind Sie krank. Eine
grausige Erinnerung beschäftigt Sie. Das, was Sie im Restaurant erlebt haben,
möchten Sie nie wieder erleben. Plötzlich fühlten Sie sich hundeelend und
mussten das Lokal verlassen. Sie wollen gar nicht darüber nachdenken, was Ihre
Freunde hinter Ihrem Rücken redeten. Schließlich wissen Sie, welche Vorbehalte
Ihre Zustände auslösen können. Als noch keiner ahnte, was mit Ihnen los ist,
hat man Sie manchmal ins Krankenhaus gefahren, wenn es Ihnen schlecht ging. Nie
konnten Sie beschreiben, was in solchen Momenten mit Ihnen geschah. Sie wussten
nur, dass Sie plötzlich bleich wurden, dass ihre Schultern sich verkrampften
und Sie meinten, Ihnen platze der Schädel. Wenn Ihre Ärzte danach fragten, sagten Sie, Ihnen sei schwindlig
geworden. Aber Schwindel war das falsche Wort dafür. Ihnen war nicht schwindlig,
vielmehr spürten Sie in einem Moment der inneren Einkehr die ganze Tragik Ihrer
Vergänglichkeit über sich herein brechen. Während solcher Augenblicke waren Sie
fest davon überzeugt, dass Sie die nächsten Stunden nicht überleben würden.
Das, was Sie im Restaurant geplagt hat, war
eine Panikattacke. Sie müssen sich damit abfinden, dass sich kein gesunder Mensch
etwas darunter vorstellen kann. Dennoch prägt Ihre Krankheit Ihr Leben und kann
Sie wochenlang außer Gefecht setzen. Angstattacken sind wie ein Fegefeuer, das den
Betroffenen die Furcht vor der Hölle lehrt. Zuweilen fühlen Sie sich wie ein
Unfallopfer, das nur knapp dem Tode entronnen ist, aber dennoch Autofahren
muss. Sie wollen Ihren Körper nicht länger benutzen, aber Ihnen bleibt nichts
anderes übrig, weil Sie trotzdem am Leben hängen. Psychologen sagen, das sei die
Angst vor der Angst, die manche Patienten beinahe in den Wahnsinn treibt. Sie
kann unerträglich lange anhalten und jeden Aspekt Ihres Lebens beeinflussen. In
den Angstphasen stopfen Sie sich mit Medikamenten voll, bis Sie wieder
alltagstauglich sind. Nichts fürchten Sie mehr als längere Krankheitsperioden,
die Ihnen alle Zuversicht auf Besserung rauben. Am liebsten würden Sie einfach
nur ganz normal „funktionieren“, jeden Tag arbeiten und ein unauffälliges
Dasein fristen. Sie wissen aber, dass sich diese Sehnsucht nach Normalität wohl
nie erfüllen wird.
Obwohl Sie Ihre Symptome nur körperlich
empfinden, ist Ihnen klar, dass Sie anders ticken, als die meisten Menschen.
Was Sie von den anderen unterscheidet, ist Ihr Bewusstsein für die eigene
Sterblichkeit. Sie fühlen ganz genau, was es bedeutet, dass Ihr Leben eines
Tages ein Ende haben wird. Deshalb wachen Sie ab und zu auf und nehmen Ihre
Existenz genauer unter die Lupe. Im Religionsunterricht haben Sie einmal ein
Bild über Ihren Umgang mit dem Tod zeichnen müssen. Nie werden Sie vergessen,
wie schockiert Ihre Lehrerin darauf reagiert
hat. In einer ungekünstelten Skizze entblößten Sie die ganze Tragik unserer
Existenz. Dabei war Ihr Bild weder schön noch künstlerisch wertvoll. Vielmehr handelte
es sich schlicht um ein Blatt Papier
voller Kreuze, die sich auf der einen Seite konzentrierten und auf der anderen
Seite ausdünnten. Zwischen die Kreuze zeichneten Sie einen Pfeil, der sich
durch die freien Räume schlängelte, bis er im dichteren Teil der Grafik „stecken
blieb“. Als Ihre Lehrerin nachhakte, erklärten Sie ihr, die Kreuze stünden für
die unzähligen Möglichkeiten des Sterbens. Man weiche diesen Möglichkeiten ein
Leben lang aus, aber am Ende konzentrierten sie sich derart, dass niemand
seinem Schicksal entrinnen könne. Darum stünden am Anfang nur wenige Kreuze,
gegen Ende aber viele.
Inzwischen haben Sie sich daran gewöhnt,
dass Sie das Sterben immer wieder als Übung praktizieren müssen. An was Sie
sich allerdings nie gewöhnen werden, ist das Misstrauen, das Ihnen
entgegenschlägt, wenn Sie wegen Ihrer Attacken krankheitsbedingt ausfallen.
Eine Neurose ist eben kein Beinbruch, den man von außen sehen kann. Deshalb
haben Sie nach modernen Maßstäben auch kein Mitleid verdient, sondern stehen
ständig unter dem Verdacht der Drückebergerei. Ihre Kollegen halten Sie für
einen arbeitsscheuen Zeitgenossen. Man munkelt, dass Sie Ihre Neurosen nur
vorschieben, um auf Staatskosten Urlaub zu machen. Von Zeit zu Zeit wünschen
Sie den Lästerern, Ihre Krankheit träfe sie einmal selber. Denn Panikattacken
sind zwar nicht besonders gefährlich, aber sie bringen einen Leidensdruck mit
sich, der alles in den Schatten stellt, was Sie kennen - und das ist einiges,
wenn man bedenkt, dass Sie schon Erfahrungen mit Migräne, Knochenbrüchen und
schwierigen Zahnbehandlungen gesammelt haben.
Als Sie noch keine sechs Jahre alt waren,
lagen Sie monatelang im Bett und haben nacheinander Masern, Windpocken und eine
Grippe durchgestanden. Sie erinnern sich noch an die Nacht, in der Ihre Mutter leise
schluchzend neben Ihrem Bett saß. Der Arzt hatte ihr erklärt, dass Sie durch
Ihre Krankheit stark dehydriert seien und möglicherweise sterben würden. Alles
hänge von den nächsten Tagen und Nächten ab. Sie wurden künstlich ernährt, weil
Sie keinen Bissen mehr herunterbrachten. Die Sorge Ihrer Mutter war fast schon
physisch greifbar. Sie spielten damals den Schlafenden, nahmen Ihre Kraft zusammen
und konzentrierten sich auf die Heilung. Seitdem stehen Sie mit dem Tod auf Du
und Du. Er brannte Ihnen sein Zeichen in den Leib, damit Sie ihn nie vergessen.
Danach haben Sie einen prügelnden Vater, mehrere gefährliche Unfälle und sogar
einen zweiminütigen Herzstillstand überlebt. Entgegen dem Volksmund stärkten
Sie diese Erfahrungen aber nicht, sondern sie machten Sie nur schwächer. Sie
könnten gut auf Ihre Vergangenheit verzichten, wenn man Sie ließe. Der Mensch
ist jedoch nur die Summe seiner Erfahrungen, und Sie wissen, dass Sie ein
Anderer wären, wenn Sie Ihre Erlebnisse nicht geprägt hätten.
Spüren Sie, wohin Sie Ihre Gedanken treiben?
Es ist wieder so weit. Sie haben in
Ihrem Gehirn Staub aufgewirbelt. Jetzt bemerken Sie einen sanften Schmerz im
Kiefer und ihre Backen fühlen sich pelzig an. Wenn Sie sich zurücklehnen und
eine Pause machen, haben Sie vielleicht noch eine Chance. Aber dazu fehlt Ihnen
die Zeit, weil Sie beim Arbeiten sind. Mit ein bisschen weniger Kundenverkehr
könnte vielleicht alles gut gehen. In der Hoffnung auf Besserung verkriechen
Sie sich auf die Toilette. Als Sie die Türschwelle überschritten haben, lassen
Sie Ihre Maske fallen. Sie treten in die Kabine, schließen hinter sich ab und
massieren Ihre Schläfen. Hoffentlich hat niemand etwas bemerkt. Nun haben Sie
die Ruhe, die Sie suchten. Doch beim Gedanken an Ihre Arbeit wird Ihnen heiß
und kalt. Sie beruhigen sich, indem Sie im Geiste zwischen den Fliesen Linien und
Striche zeichnen. Was anderen seltsam
erschiene, ist ein beständiger Teil Ihres Alltags. Manchmal fahren Sie die Fugen
sogar mit dem Finger nach. Solche Methoden beruhigen Sie und lenken Ihre
Gedanken in eine harmlosere Richtung. Am Ende werden Sie die Toilette wieder
verlassen und zur Tarnung die Spülung betätigen. Bevor Sie das tun, balgen Sie
eine Tavor Expidet 1,0 in Ihren Handflächen und denken darüber nach, ob Sie die
Pille schlucken sollen. Sie entscheiden sich zunächst dagegen.
Bei Ihrer Rückkehr ins Büro stellen Sie
fest, dass schon ein Kunde wartet. Sie kennen ihn. Eine dunkle Vorahnung
übermannt Sie. Warum haben Sie nur auf die Pille verzichtet? Sie ringen sich
ein freundliches Lächeln ab, halten dem Kunden die Tür auf und bieten ihm einen
Platz an. Er setzt sich und fängt wie üblich an, Sie zu beschimpfen. Spürt er etwa
Ihre Schwäche? Sie versuchen den Mann zu beobachten, aber Ihr Körper lässt das
nicht zu. Wären Sie gesund, würde er nach wenigen Minuten wie ein geschlagener
Hund aus Ihrem Büro marschieren. Aber Sie sind nicht gesund, vielmehr müssen
Sie sich ganz auf Ihre Haltung konzentrieren. Der Wichtigtuer im Polstersessel
ahnt gar nicht, wie wenig Sie sich mit ihm beschäftigen. Sie haben den Eindruck
er verschwände hinter einer milchig weißen Wolke, die von Ihrem Kopf aus in den Raum dampft. Vor
Ihren Augen scheint die Luft zu flimmern, während der Druck im Gehirn stetig
ansteigt. Sie meinen unter Ihrer Schädeldecke blase sich ein riesiger Ballon
auf, der Ihnen alle Wärme aus dem Körper sauge. Nervös reiben Sie sich mit
ihren Hand über die Stirn. Ihre Fingerkuppen sind eiskalt und feucht wie eine
Hundeschnauze.
Sie
haben den Eindruck, eine Flüssigkeit rinne Ihnen von der Stirn aus in den
Oberkörper. Sie ziehen die Schultern hoch als wollten Sie die Flüssigkeit
zurückpumpen. Aber Ihr Zustand wird dadurch nicht besser, sondern er
verschlechtert sich. All Ihre Sinne blicken nun angespannt nach innen, weil Sie
voraus ahnen, was als nächstes geschehen wird. Sie fühlen sich wie eine
Antilope, die sich nach einer Hetzjagd im Schatten einer Akazie versteckt. Ihr
Puls rast wie eine Dampflokomotive, Ihre Halsschlagader pocht unerträglich. Mit
all Ihrer Kraft konzentrieren Sie sich darauf, Ihre Symptome in den Griff zu
bekommen. Sie wollen keine Schwäche zeigen, kein Mitleid beschwören, nicht zusammenbrechen.
Aber dann, von einem Moment zum andern, fühlen Sie sich, als stürzten Sie in
eine tiefe Schlucht. Sie durchleben dieses Gefühl rein körperlich, während Sie
in der wirklichen Welt fest in Ihrem Bürosessel sitzen. Ihre Beine drücken
gegen den Boden, als hingen schwere Bleigewichte daran. Dann schießt ihr Blut
ins Hirn und löst dort eine Lawine von Panikreaktionen aus. Ihr Kunde verliert
mehr und mehr an Bedeutung. Ein Gewitter der Angst treibt Blitze durch Ihren Verstand, zeichnet gelbe Funken auf Ihre Netzhaut. Sie winden sich aus dem Stuhl,
greifen sich mit der Hand an die Stirn. Als der Mann gegenüber Ihnen einen
fragenden Blick zuwirft, winken Sie ab, als wollten Sie eine Fliege
verscheuchen. In gebückter Haltung schwanken Sie aus dem Büro und eilen in
Richtung Toilette. Auf dem Gang begegnet Ihnen eine Kollegin, die Sie wissend
anschaut. Gleich darauf wird Sie unter den Schreibkräften Ihr Gift versprühen.
Aber das stört Sie nicht, weil Sie gerade buchstäblich um Ihr Überleben
kämpfen.
Kaum fällt die Toilettentür hinter Ihnen zu,
kramen Sie hektisch die Tavor Expidet 1,0 aus Ihrem Geldbeutel. Zitternd
schieben Sie sich das Plättchen in den Mund. Sie betrachten sich im Spiegel und
fragen sich, was geschehen musste, dass Sie so geworden sind. Panisch verziehen
Sie sich in eine der Kabinen. Dort werden Sie ungefähr zehn Minuten ausharren.
Wenn Sie Glück haben, spüren Sie bis dahin eine Wirkung und können sich wieder
an Ihren Arbeitsplatz begeben. Erfahrungsgemäß dauert es allerdings mindestens
eine Dreiviertelstunde, bis die Symptome ernsthaft nachlassen. Sie sind darin
geübt, die halbe Stunde zwischen Wirkungseintritt und voller Wirkung zu
überbrücken. Schließlich gewöhnt sich der Mensch beinahe an alles, und allein
das Wissen um die baldige Linderung genügt, damit Sie wieder einigermaßen
funktionieren. Bei Ihrer Rückkehr werden Sie versuchen, Ihren Kunden mit einem
Lächeln zu begrüßen. Dann werden Sie ihn reden und schimpfen lassen, bis es ihm
wieder einigermaßen gut geht. Die Tavor wird Ihnen dabei helfen, den Mann nicht
als das wahrzunehmen, was er wirklich ist: Ein überkandidelter Emporkömmling,
der Ihnen mit seiner Selbstüberschätzung auf die Nerven geht. Wie oft hat Ihnen
Ihr Psychiater schon gesagt, Ihre Probleme hätten viel mit innerer Wut zu tun?
Aber wie sollte man nicht wütend sein, wenn man seine Zeit mit solchen Menschen
verbringen muss? Sie lächeln in sich hinein, gehen zurück ins Büro und treten demütig durch die Tür. Dann
suchen Sie sich eine passende Ausrede und hören sich das Gequatsche Ihres
Kunden zu Ende an. Man warnte Sie oft vor Benzodiazepinen wie Tavor. Aber diese
Medikamente geben Ihnen die Kraft, weiterhin im Strom zu treiben. So können Sie
die Welt für krank halten und dennoch an ihr teilhaben. Alle sind glücklich,
der Leistungsgesellschaft ist Genüge getan, das Spiel geht unerkannt weiter.
Nun dürfen Sie sich zurücklehnen. Entfliehen
Sie wieder in Ihre heile Welt! Wenn Sie sich nicht ganz verschlossen haben,
lernten Sie vielleicht gerade ein Stück von Ihrer Zukunft kennen. Denn
Panikattacken sind nichts anderes als Vorübungen für den Moment des Todes, den
jedes Lebewesen am Ende ertragen muss. Menschen mit Neurosen sind wie Fische,
die so nah an den Strand schwimmen, dass sie meinen, sie müssten auf dem heißen
Sand ersticken. Obwohl sie Ihre Probleme vor allem körperlich wahrnehmen, sind
es psychische Abweichungen, die sie in Ihre Krankheit treiben. Sie sehnen sich
nach einer besseren Welt, haben aber nicht den Mut, etwas zur Veränderung
beizutragen. Das ist ein Schicksal, dass nicht jeder teilen mag. Deshalb ist es
für Gesunde womöglich das Beste, sich nicht näher mit dem Weltbild von
Neurotikern zu beschäftigen. Vielleicht haben psychosomatische Erkrankungen in
den letzten Jahren aber auch deshalb so zugenommen, weil Naturwissenschaften
die moderne Welt mehr und mehr entzaubern. So bleibt vielen Menschen der Trost
des ewigen Lebens verschlossen und die wenigen, die Ihre Sterblichkeit
erkennen, verfallen darüber in Verzweiflung. Als Kenner der Situation dürfen
Sie sich gerne ein eigenes Bild machen. Vergessen Sie aber nicht, dass
Neurotiker Menschen mit ganz normalen Zielen sind, die sich manchmal nur selber
im Wege stehen. Das ist eine Erkenntnis, die Sie mitnehmen sollten. Vielleicht
bewahrt Sie das einmal vor voreiligen Schlüssen.